2006: Reise nach Argentinien
- Bericht auf der Seite von Juan Saenz
2004: Reise nach Brasilien, Suite in fünf Sätzen
- nach meinen Tagebuchnotizen

(hier die reine Textversion als PDF - lässt sich besser lesen - mehr Fotos unter Web-Album Ordner Brasilien)

1. Präludium

Freitag, 16.7.
- Morgen soll's also tatsächlich losgehen. Ich sitze im Musikschul-Büro und rekapituliere: Haben wir wirklich an Alles gedacht? Mit was haben wir uns in den letzten Wochen nicht herumgeschlagen: Beantragung von Fördermitteln, notariell beglaubigte Einverständniserklärungen jeweils beider Eltern bei Minderjährigen, Impfungen gegen Hepatitis und Gelbfieber, Festlegung der Konzert- und Besichtigungsprogramme, Instrumentenbeschaffung und und und - tausend Kleinigkeiten, die in unzähligen Mails zwischen Barbara und mir hin und her gewälzt worden sind. Dank Frau Friedrich, die unermüdlich an der Strippe hing und mit allen Beteiligten den ganzen Kleinkram verhackstücken musste, ist jetzt wohl alles "in trockenen Tüchern", denke ich mir.
    Vielleicht sollte man sicherheitshalber noch einmal alle Pässe nachzählen, nicht, dass nachher daran unsere Einreise nach Brasilien scheitert, weil irgendjemand ohne gültigen Pass unterwegs ist - so was soll schon vorgekommen sein... Wir haben alle Pässe einkassiert, um in diesem Punkt ganz sicher zu gehen. Jetzt liegen sie in meinem Schrank und ich gehe sie noch einmal alle durch, das kann ja nicht schaden. Einer sieht ganz anders aus als die anderen - "Reisedokument" steht drauf und, dass der Besitzer, unser 2. Fagottist, armenischer Staatsbürger ist. Dunkel entsinne ich mich, dass Barbara gesagt hatte, der Pass sei aber in Ordnung, weil in Deutschland ausgestellt. Wie war noch mal die Einreisebestimmung für Brasilien? Ich sehe schnell noch einmal auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes nach: Deutsche Staatsbürger benötigen nur einen noch mindestens sechs Monate gültigen Reisepass. Soweit klar, nur: zählt das in Deutschland ausgestellte Reisedokument eines Armenischen Staatsbürgers auch dazu? Rufe gleich mal Barbara an, die natürlich auch in Reisevorbereitungen begriffen ist und im Stress. "Hör bloß auf, der Pass ist in Ordnung, habe mit der Mutter von Armen darüber gesprochen" lässt sie sich vernehmen - gemeinsam beschließen wir aber, dass ich mit der brasilianischen Botschaft in Frankfurt telefonisch noch einmal Rücksprache halten soll deswegen. Die Nummer finde ich im Internet, reine Routine. Bekomme die Botschaftssekretärin ans Telefon, die mir mit unendlich schläfriger Stimme - Freitag kurz vor 12.00 Uhr, da ist schließlich schon fast Wochenende - mitteilt, das sei aber alles nicht so einfach, da müsste ich schon mit dem Botschafter persönlich sprechen. Dieser verstehe allerdings kein Deutsch! Sie gibt mir die Durchwahl.
    Panikanruf bei Barbara: "Du musst mit dem Botschafter reden, es gibt Probleme". 20 Minuten später kommt ihr Rückruf. "Armen braucht ein Visum, sonst muss er hier bleiben." "Ich kann aber auf keinen Fall ohne meinen 2. Fagottisten fahren!" "Gut, dann fahr sofort nach Frankfurt, Du brauchst den Pass und die notariell beglaubigte Einverständniserklärung der Eltern. Die Botschaft macht um 17.00 Uhr zu, kannst Du das schaffen?" Mittlerweile ist es halb eins, die Einverständniserklärung ist in Detmold bei Barbara. Von da braucht sie fast eine Stunde bis Gütersloh. Kann man das schaffen, am Freitagnachmittag mit dem Auto in dreieinhalb Stunden nach Frankfurt? Ausgeschlossen. Barbara lässt trotzdem alles stehen und liegen und fährt schon mal los in Detmold, wir haben ja keine Zeit zu verlieren. Während ich fieberhaft nach anderen Möglichkeiten suche, rechtzeitig nach Frankfurt zu kommen, telefoniert Ernst Westermann mit der Botschaft und versucht etwas Zeit für mich herauszuschinden. Wir kommen doch sowieso morgen nach Frankfurt, da unser Flieger von da geht. Vielleicht kann man vorher kurz in der Botschaft vorbeischauen? Der Botschafter ist "not amused". Er redet von "private Life" und lässt sich gerade noch erweichen, heute ein bisschen länger in der Botschaft zu bleiben, nicht gleich um 17.00 Uhr ins Wochenende zu verschwinden. Also, es hilft Alles nichts, ich muss hinfahren. Rufe kurz zuhause an und sage Bescheid, dass es etwas später wird heute - Mist: ich habe noch nichts gepackt...

Welche Wege nach Frankfurt kommen in Frage:
  1. Mit dem Flieger von Hannover, dahin aber mit dem Auto auf der A2 in knapp einer Stunde?
      Geht nicht, zu unsicher.
  2. Mit dem Zug über Dortmund? Kommt erst 18.14 Uhr an: verwerfen.
  3. Von Kassel-Wilhelmshöhe mit dem ICE, 15.17 Uhr. Das ist meine Chance!

Der Zug kommt um 16.45 Uhr in FFM an, mit etwas gnädiger Geduld vom Vizekonsul kann ich es schaffen. Jetzt ist es 13.30 Uhr, Barbara muss jeden Moment mit dem Einverständnis-Papier, ohne das gar nichts geht, kommen. Stelle mich mit laufendem Motor vor die Musikschule. 13.40 Uhr, Barbara biegt um die Ecke, wie beim Stafettenlauf reiße ich ihr das Ding aus der Hand und düse los. Hoffentlich gibt's keinen Stau heute...
    Komme glatt durch nach Kassel und finde auch den Bahnhof ohne Probleme, es ist kurz nach drei, fehlt nur noch eine Fahrkarte. Stau am Schalter. Kein Problem, wofür gibt es Automaten? Klicke mich durch 100 Fragen bis hin zum Bezahlen per Scheckkarte. Versuche es mit der Musikschulkarte, warum soll ich den Zug von meinem Konto bezahlen? Wie war denn noch mal die Pin für diese Karte? Leider habe ich sie nicht parat. Abbruch, Karte zurück, andere Karte rein - oh nein, alles beginnt von vorne! Langsam werde ich nervös - es wird Zeit, dass ich zum Zug komme...
    Anderthalb Stunden später nehme ich in Frankfurt ein Taxi und genau 16.59 Uhr rüttele ich an der Pforte der Botschaft in der Hansaallee. Schon geschlossen, das gibts doch nicht! Hinter dreifacher Verglasung schlurft mir jemand, den ich zunächst für einen Schließdienstmenschen halte, entgegen, immerhin, es ist jemand da! Es gelingt ihm irgendwie nicht, mich durch das Hauptportal hereinzulassen, er winkt mich zum Seiteneingang. Es ist - wie sich herausstellt der Vizekonsul persönlich. Seine komplette Mannschaft ist bereits ausgeflogen und hat ihm alles für den amtlichen Vorgang der Visumserteilung notwendige bereitgelegt...
    Zum Glück ist er nur ganz wenig angesäuert, dass ich ihm sein Wochenende angeknabbert habe. Er schimpft in einem etwas harten aber gut verständlichem lateinamerikanischen Englisch milde vor sich hin. Er könne für all den Papierkram nichts, sei, wie er sich ausdrückt "victum of the situation as much as you" - schließlich seien wir, die Deutschen, die doch angeblich immer alles perfekt durchorganisieren, in diesem Fall die Chaoten gewesen. Überhaupt: Er sei nun seit 5 Jahren in Frankfurt und habe feststellen können, dass es mit der Deutschen Gründlichkeit wohl doch nicht soweit her sei. "Ihr denkt wahrscheinlich: Was für eine Bananenrepublik, dieses Brasilien! Und dabei gibt es bei Euch genauso viel Chaos und Papierkram wie bei uns." Ich sehe keinen Grund zu wiedersprechen, erst recht nicht, bevor ich nicht das begehrte Visum in Händen halte, grunze verständnisvoll gemeinte englische Worthülsen vor mich hin teile ihm ein wunderbar bequemes und zugleich äußertst stichhaltiges Argument mit: "Was kann ich dafür, ich bin doch nur der Dirigent". Dieses gefällt uns beiden ganz gut und ich beschließe in diesem Moment, während der Brasilien-Tour gelegentlich erneut davon Gebrauch zu machen. Es stellt sich übrigens heraus, dass er auch "nur der Botschafter" ist. Visa pflegt er z.B. normalerweise nicht selbst auszustellen. Man hat ihm alles vorbereitet, in einer Klarsichthülle liegen Vordrucke, Aufkleber, drei bereits vorsorglich ins Farbkissen gedrückte Stempel und ein "Ablaufplan", den er immer wieder zu Hilfe nimmt, um ja keinen Fehler zu machen. Während der Prozedur gefallen wir uns beide immer besser in der Rolle des "victum of the situation" und meine Laune beginnt sich zu heben, bis mir der Botschafter, nachdem er unsere schicke notariell beglaubigte Einverständniserklärung kopiert hat, mitteilt: Diese sei zwar sehr schön gemacht, aber leider ungültig. Ich werde wahnsinnig - was soll das denn jetzt wieder? Tja, woher soll denn der Einreisebeamte in Brasilien wissen, was in Deutschland ein Notar ist, und wenn doch, ob unserer überhaupt von Brasilien anerkannt wird? Dieses Dokument hätte unbedingt (gegen Gebühr versteht sich) von der Botschaft im Vorfeld beglaubigt werden müssen - an dieser Stelle verwendet seine Exellenz den einzigen deutschen Ausdruck unseres gesamten Gesprächs: "Überbeglaubigung", dafür scheint es kein englisches Synonym zu geben - und wir dachten, dass es von einem Landgericht beglaubigt wurde, müsste doch wohl genügen! Jetzt ergreift mich langsam Panik. "Are we going to have problems with this paper?" frage ich ihn bang, in ungelenkem Notfallenglisch. Er drückt mir den ganzen Papierkram grinsend in die Hand: "I don't think so, we are no Banana-Republic, as you know!" - er garantiere aber für nichts. Ich beschließe die Brasilianer fürs erste locker, sympathisch und kein bisschen bürokratisch zu finden und mache mich mit S- und U-Bahn wieder auf den Weg zurück zum Bahnhof, wo ich mich um 18.09 Uhr im Intercity nach Kassel einfinde, mit einem gültigem Fahrausweis in der Tasche, denn mit Bahnhofsautomaten kenne ich mich ja jetzt aus...

2. Anreise - Allegro mobile

Samstag/Sonntag 17./18. Juli
- 14.00 Uhr, der Bahnhof Gütersloh füllt sich nach und nach mit reisefiebrigen "Philharmonikern" nebst umfangreichem Gepäck, Instrumentarium und Angehörigen. Ein paar treffen erst in letzter Minute ein, der erste Zählappell dieser Reise ergibt: Es kann losgehen, wer jetzt noch fehlt, sitzt entweder schon seit Bielefeld im Zug oder kommt später in Oelde (Philipp und Lydia) bzw. dann in Frankfurt (Chrissy und Sarah) dazu. Wir stauen uns mit Sack und Pack in den völlig überfüllten Regionalzug nach Dortmund - Platzkarten gibt es erst später im ICE. Bis Dortmund stehe ich eingeklemmt zwischen all den Koffern und Instrumenten, die Ein- und Ausgang blockieren - egal, wir werden heute noch genug Gelegenheit zum Sitzen haben, wie es aussieht.
    Irgendwie schafft es der Kontrolleur trotz unserer massiven Kofferblockade, zu mir vorzudringen. Es hat ihm offenbar jemand verraten, dass ich die Fahrkarten haben soll. Stimmt das überhaupt? frage ich mich. Leider hatte ich gestern keine Gelegenheit mehr, mich mit dem umfangreichen Ticketpaket auseinander zu setzen, das Barbara mir anvertraut hatte. Ich suche verzweifelt in der Mappe nach gültigen Bahnkarten, finde aber nur Reservierungsbelege für den ICE. Verdammt, was ist das jetzt wieder? Ach ja, wir haben "Fly and Rail" gebucht. Vielleicht steht auf den Flugtickets was. Der Bahnbeamte hat längst aufgegeben, mir bei der Suche zuzusehen. Er lässt uns so ziehen, hat wahrscheinlich auch gar keine Lust, 42 Leute wegen Schwarzfahrens hopps zu nehmen. Im Intercity nach Frankfurt - endlich wieder Frankfurt! - klärt sich alles auf: die Bahnkarten gehören zum Ticket-Paket der Varig, der Gesellschaft, die uns über den Teich fliegen soll. Alles wendet sich zum Guten und der ICE schaukelt uns elegant zum Flughafen.


Der Flughafen scheint - seit ich das letzte mal hier war - schon wieder gewachsen zu sein, in punkto Comfort ist man allerdings auf Sparflamme gewechselt: Rolltreppen und -bänder sind abgeschaltet, und wir müssen unsere Koffer steile Treppen rauf und runtertragen. Beinahe schon zwangsläufig fällt einer meiner Fagottisten gleich ein paar Stufen auf einmal herunter und landet, im Gesicht ganz grün geworden direkt vor meinen Füßen. Das fehlt gerade noch, dass wir ausgerechnet Armen, dessen Visum ich gestern hier so umständlich abgeholt habe, jetzt beim Notarzt abliefern müssen...
    Glück im Unglück: Armen steht wieder auf, zählt seine Knochen und murmelt "geht schon wieder". Offenbar ist nichts gebrochen, was soll uns also aufhalten?
    Also weiter, zum Varig-Schalter, wo Barbara für uns ein Gruppen-Einchecken gebucht hat. Davon hat der brasilianische Schalterbeamte allerdings nichts mitbekommen. "So etwas machen wir hier nie!" ist seine erstaunliche Auskunft. Barbara fängt leicht an zu köcheln. Der Mann gibt sich kalt und obrigkeitsgewaltig. Einzeln treten wir vor und liefern brav unser Gepäck, die eilig wieder an alle ausgeteilten Pässe und Tickets ab, und Barbara und ich hören uns wohlwollend herablassend vorgebrachte Ratschläge für zukünftige Reisen an. Erst als Lasse, mit 11 Jahren unser jüngster Mitfahrer mit seinem Klarinettenkoffer zum Schalter vordringt, taut der Mann etwas auf und wird noch richtig freundlich. Erste positive Erfahrung: Brasilianer mögen Kinder.
    Draußen ist es - von uns im klimatisierten Zug praktisch unbemerkt - den ganzen Tag stürmisch gewesen. Folge: Den Flieger, eine etwas ältere MD-11 der brasilianischen Luftfahrtgesellschaft Varig, dürfen wir, nachdem wir uns darin gerade häuslich niedergelassen haben, wieder verlassen. Unser Flug ist nach Verzögerungen des gesamten Flugverkehrs von diesem Airport in der Reihenfolge der startenden Maschinen auf Platz 48 gelandet und soll ca. 1 ½ Stunden später fliegen. Das geht ja lustig los! Einige von uns, die noch nie geflogen sind, machen sich wohl so ihre eigenen Gedanken über das stürmische Wetter, das unseren Abflug vorerst verhindert.
    Dann geht es endlich los, wir können abheben. Neben mir sitzt Lasse ganz cool und genießt seinen ersten Flug. Er bekommt als Erster sein Essen und strahlt, ist rundum zufrieden. Jetzt heißt es: 11 1/2 Stunden sitzen. Die Maschine scheint nicht gerade taufrisch. Licht, Kopfhörer etc. funktionieren nicht an meinem Platz, aus der Armlehne hängen Kabel heraus. Da wir in der Nähe der Turbine untergebracht sind, ist der Lärmpegel währen des ganzen transatlantischen Fluges gleichbleibend hoch, es will mir nicht gelingen einzuschlafen. Die Landung in Sao Paulo ist nach langem Herbeisehnen dann doch schneller als erwartet geglückt, wir haben fast schon brasilianischen Boden unter den Füßen, da wir aber erst in Porto Alegre auschecken können, ist zunächst Warten auf den nächsten Flug angesagt, noch auf exterritorialem Raum. Die Wartezeit haben wir zum Glück schon zur Hälfte in Ffm abgesessen. Ich rufe zu einem kurzen Zwischenbericht unter Verwendung meiner Kreditkarte in Herzebrock an. Das funktioniert also schon mal. Unser nächstes Flugzeug, das zu Lasses Begeisterung ein modernere Ausstattung mit Bildschirmen an jedem Platz hat, bringt uns pünktlich nach Porto Alegre, wo wir - nach dem etwas aufwendigen Ausfüllen des Einreiseformulars (Fragen über Fragen...) beim Zoll ganz flott abgefertigt werden.
    Ehe wir uns versehen, sind wir da und müssen nun nur noch auf die zwölf Leute warten, die über Rio geflogen sind und deren Ankunft für 12.00 Uhr angekündigt ist. Derweil können wir unser Gepäck schon mal in dem Bus verstauen, den uns die Unisinos für die erste Woche zur Verfügung gestellt hat und der schon bereit steht.
Im dritten Obergeschoss bietet uns das Flughafengebäude einen tollen Überblick über das Flugfeld, hinter dem sich die Kulisse der Stadt ausbreitet. Im Anflug konnte man schon einen ersten Eindruck von dieser an vorgelagerten Lagunen liegenden Stadt bekommen. Wir hoffen auf mehr.


Nachdem auch die Rioleute nur wenig verspätet gelandet sind, können wir die dreißig Kilometer zu unserem Zielort São Leopoldo zurücklegen und sind da. An der Rezeption des Hotel "Confort" stellt sich heraus, dass unsere ausgeklügelte Zimmerverteilungsliste leider nicht wie geplant funktionieren wird: Es gibt doch überwiegend Dreier-Zimmer. Barbara probiert ein paar schnelle Kombinationen, die nicht immer gleich auf Gegenliebe stoßen. Aber nach einigen Diskussionen rüttelt sich doch alles zurecht. Ich lande mit Wiebke und Lars auf einem Zimmer und auch Herr Dreier (nomen est omen) lässt sich klaglos mit Armen und David zusammenlegen. Bin davon schwer beeindruckt. Mittlerweile ist es nach 14.00 Uhr Ortszeit, vielleicht sollte man mal was essen? Das bei einem Lieferservice für uns bestellte Mittagessen kommt wohl nicht mehr, wir begeben uns geschlossen eine Strasse weiter in ein Lokal, in dem ruckzuck ein Bufett für uns aufgeboten wird, von dem man sich für 12,50 Reais (entspricht 4.- €) soviel brasilianische Köstlichkeiten wie man schafft nehmen kann. Das wird also unsere erste brasilianische Mahlzeit. Das Bufett steckt voller Überraschungen. Fühle mich an Harry Potter (Berti Bott's Bohnen aller Geschmacksrichtungen) erinnert. Alle möglichen Köstlichkeiten sind hier so in Pastetenteig verborgen, dass man nie weiß, ob es süß, salzig oder sauer, oder wie auch immer schmecken wird - anders als Harry P. habe ich Glück und erwische nichts mit Popelgeschmack o.ä. Die erste Runde dient dem Kennenlernen, aber leider schmeckt Alles sehr gut, so bleibt die Qual der Wahl. Dazu gibt es frisch gepressten Orangensaft, der bereits erahnen lässt, was Obst in Brasilien bedeutet.


Abends holt uns unser Bus wieder vom Hotel ab. Tapfer gegen unser dringendes Schlafbedürfnis ankämpfend hören wir uns im Santuário Sagrado Coração de Jesus, einem unglaublich hässlichen Betonklotz von Sakralbau mit Hauptbahnhof-Charme eine Aufführung von Beethovens Neunter an. Angesetzt um 19.00 Uhr beginnt das Konzert oder besser die einleitenden Wortbeiträge von Organisator, Hausherr und Dirigent schließlich um zehn nach acht. Eine für das nur teilprofessionelle Ensemble der Unisinos (später erfahren wir, dass das Orchester zu 80% mit Musikern des Orquestra Sinfônica de Porto Alegre aufgestockt ist, die vorher noch eine andere Mucke hatten...) durchweg sehr achtbare Aufführung wird uns da geboten, die ein Drittel unseres Orchesters allerdings verschläft, da der Tag halt doch bereits fünf Stunden zu lang war. Bis zum Einsatz des Baritonsolisten war bis auf kleinere Intonationsprobleme in den Holzbläsern alles prima, dann wurde ziemlich wüst vielstimmig drauflosgebrüllt, und ich musste mir gelegentlich das Lachen verkneifen. Unsere Chöre daheim würden sich aber wegen der Massen an Männerstimmen die Lippen lecken, soviel steht fest. Der Beifall am Ende war laut, herzlich, im Stehen gegeben und überraschend kurz. Bin sehr gespannt, was uns in dieser Hinsicht so erwartet!

3. Eine Woche in São Leopoldo (vulgo: Sankt Leonardo) - Moderato

Montag, 19. Julho
- Genieße ein herrlich fulminantes Hotelfrühstück mit vielen bisher unbekannten Obstsorten (Papaya, Mango, Mamão, Schokoladen-Kaki), frischer Ananas (und ich dachte, ich wüsste, wie so etwas schmeckt...), winzigen zuckersüßen Bananen und vor allem, in völliger Ruhe, denn die Andern sind so früh (7.30 Uhr) längst noch nicht auf den Beinen. Als Erstes sollen wir heute das Leopoldo-Fest besuchen. Obgleich es nur wenige hundert Meter vom Hotel entfernt ist, werden wir - aus Sicherheitsgründen, wie es heißt - mit dem Bus dorthin gebracht. Das Leopoldo-Fest, in diesem Jahr ganz dem Gedenken an "180 anos da Imigração Alemã" gewidmet, wie man überall lesen kann, ist eine Verkaufsmesse mit Volksfestcharakter. In kleinen Büdchen und Ständen werden alle möglichen Dinge, wie man sie bei uns wahrscheinlich bei Kaffeefahrten vorgestellt bekommt, dazu Modeschmuck, Kleidung, Lebensmittel, CDs, und natürlich Gaucho-Bedarf verkauft.
    Alle trinken hier schon fast rituell aus dem Chimarrão, einer ausgehöhlten kleinen Kürbisfrucht, ein Mateteegesöff, das ich ziemlich bitter finde. Natürlich kaufen wir gleich heute einen solchen Kultgegenstand, und Lasse wird ihn wohl bis ans Ende der Reise stets am Laufen halten, so begeistert ist er davon.


Zum Mittagessen sind wir auf dem Fest bei "Dodó" eingeladen, einem Restaurantzelt, in dem es - nicht so exotisch - Sauerkraut mit Kassler oder Eisbein gibt, aber: man kann auch Manjokwurzeln dazu nehmen. Auf jeden Tisch stellt der Kellner außerdem Tainha, einen ziemlich großen, aufgeklappt gegrillten Meeresraubfisch aus Rio Grande mit sichelförmigen Gräten - lecker!
    Der Rest des Tages steht ganz im Zeichen unseres abendlichen Konzertes auf dem Spiegelberg im Colegio Sinodal. Wir proben ausführlich, schließlich hat die Brasilienbesetzung so noch nie zusammengespielt. Die zweiten Geigen haben das Hauptproblem: Gewohnt, in der großen Masse von 22 Leuten zu verschwinden, haben die meisten jetzt Sorge, womöglich gehört zu werden, und spielen sehr vorsichtig. Einige Vorzeichen scheinen auch noch geklärt werden zu müssen - ich bin etwas genervt. Das Publikum am Abend ist offenbar ganz zufrieden, wir bekommen unsere Standing Ovation, herzlich aber kurz, etwa so wie wir es gestern beim Beethoven erlebt haben. So schein es hier eben üblich zu sein. Mehr oder weniger ungefragt spielen wir auch noch den Brahms als Zugabe. Hauptattraktion des Konzertes sind allerdings Rumba, Tango und Bossa nova der Blechbläser, denn Sonja und Josephine haben den Schlagzeugpart übernommen. Das klappt zwar nicht auf Anhieb so ganz richtig, da sie es aber mit entwaffnendem Charme trotzdem durchstehen, bringt dies dem Ensemble die größten Sympathiewerte ein.
    Hinterher spreche ich noch mit Sr. Duarte, dem Dirigenten des Unisinos-Orchesters, der sich besonders ob der jugendlichen Besetzung unserer "Philharmoniker" sehr lobend äußert. In weiteren Gesprächen stellt sich zu unserer großen überraschung heraus, dass zwei der Gründerväter des Colegio Sinodal ihre Schulzeit z.T. in Gütersloh am Stiftischen Gymnasium zugebracht haben, und dieses damit hier sogar eine Art Vorbildfunktion gehabt haben mag. Herr Dreier ist ganz geplättet, wer kann aber auch so etwas ahnen! Er berichtet, dass allerdings früher des öfteren südamerikanische Missionare ihre Söhne nach GT verschickt hätten.

Dienstag, 20. Julho - Wir besuchen die Universität Unisinos. Dahin geht unsere Fahrt durch die reichen Wohnviertel der ansonsten etwas heruntergekommen wirkenden Stadt São Leopoldo. Dass es hier eine allgemeine Bedrohung durch Kriminalität gibt, teilt sich uns so direkt zunächst gar nicht mit, die Jugendlichen verstehen unsere restriktive Ausgeh-Regelung überhaupt nicht. Die Tatsache, dass alle etwas besser aussehenden Wohnhäuser - und seien sie noch so klein - mit 2m hohen Zäunen eingefasst sind, gibt uns aber doch zu denken. Auch das großzügig angelegte Unigelände ist ein hochsicher abgeschotteter Bezirk. Wir essen in der Mensa der modern eingerichteten Privatuni, die sich wahrscheinlich nur wenige leisten können, so vermuten wir.


Nach dem Essen fahren wir weiter zu Barbaras alter Schule (Farroupilha) in Porto Alegre, auch dies eine Institution in privater Trägerschaft mit deutschen Gründern und mit fantastischer Ausstattung. U.a. machen zwei in Spiritus eingelegte Embryos ziemlichen Eindruck... Wir werden auch hier wieder sehr gastfreundlich versorgt und, da uns ein Deutschkurs empfängt, mit Schülern, die im Gespräch mit uns ihr frisch gelerntes Deutsch ausprobieren können, haben wir hier unsere ersten substantiellen Kontakte. Unter den Jugendlichen kommt es gleich zu einem Fußballmatch Deutschland gegen Brasilien (Ergebnis 1:3, nichts ganz Neues also...), Lasse mitten dabei. Wir bedanken uns mit einigen Bläserstücken im Treppenhaus, vor ziemlich kribbeligen Vorschulkindern.


Gegen alle Warnungen vor kriminellen Übergriffen wagen wir uns auf Porto Alegres höchsten Aussichtspunkt, von wo aus man im direkt kitschigen Sonnenuntergang (im brasilianischen Winter übrigens schon um 17.30!) einen unglaublichen Blick über die ganze Stadt, allerdings auch die Kehrseite, einen Teil der Favelas bekommt.


Zurück im Leopolder Quartier werden die Ausgehregeln (immer zu mindestens fünft mit einem Betreuer dabei, zurück im Hotel bis 23 Uhr etc.) bis zum Abwinken diskutiert.

Mittwoch, 21. Julho - In einem nahegelegenen Internetcafe kann ich eine erste Mail an die vorher eingerichtete Maillingliste absetzen (man beachte die Umlaute):

Liebe Daheimgebliebene, hier kommt ein erster Kurzbericht aus São Leopoldo, wo ich gerade ganz in der Naehe unseres Hotels ein Internetcafe gefunden habe. Also: Wahrscheinlich hat es sich herumgesprochen, wir sind alle gut gelandet und haben es mit unserer Unterkunft ganz prima getroffen (das Hotel ist wesentlich besser als ich angenommen hatte). Gleich am Sonntagabend haben wir tapfer gegen unser dringendes Schlafbeduerfnis ankaempfend eine Auffuehrung von Beethovens Neunter genossen - nicht alle konnten diesen Kampf gewinnen - aber das hat uns geholfen, uns der Ortszeit anzupassen.
Die Stimmung aller Beteiligten ist gut, wir werden gut verpflegt, unser erstes Konzert auf dem Spiegelberg wurde enthusiastisch aufgenommen, jeden Tag gibt es Programm, wir haben viele interessante Kontakte, und ich persoenlich habe den Eindruck, dass wir nur nette Mitspieler mit genommen haben, bin jedenfalls ziemlich begeistert von der Gruppe! Echte Probleme sind uns bisher jedenfalls ueberhaupt noch nicht begegnet.
Wir koennen uebrigens im Hotel unter der angegebenen Nummer angerufen werden, man muss sich nur an der Rezeption zum Zimmer durchfragen. Einige sind auch schon durchgekommen - allerdings: bitte nicht vergessen, dass wir hier fuenf Stunden zurueckliegen mit der Zeit. Es wurde auch schon mitten in der Nacht probiert, klar, da war es bei Euch schon spaeter Vormittag...
Soweit erstmal fuer heute, wenn ich in den naechsten Tagen dazu komme, melde ich mich nochmal, waehrend der Tour in Richtung Iguacu koennte das schwierig werden. (...)



Pläne sind dazu da, über den Haufen geworfen zu werden. Es hat sich bewährt, dass wir jeweils um 10.00 Uhr in einer Art Lagebesprechung das Programm für den Tag verkünden. Heute erfahren wir, dass wir an Stelle des ausgefallenen Orfeu-Konzertes auf dem Leopoldofest auftreten sollen. Einige von uns waren am Vorabend auf einem Chorkonzert, dass schlichtweg grausam gewesen sein muss. Heute morgen besuchen einige die Kurse in der Unisinos. Das ist aber wohl auch nicht so ergiebig. Mittags geht es zum Essen wieder aufs Leopoldo-Fest, dann machen wir eine Fahrt auf dem Rio Sinos mit einem Boot, das extra für die Verbreitung des Umweltschutzgedankens von der Stadt angeschafft wurde. Bei schönstem Wetter folgen wir dem mäandernden Fluss, an dessen Ufer Urwaldartige Vegetation vorherrscht und hin und wieder Favelas stehen.
    Der Fluss transportiert die Abwässer sämtlicher Ortschaften der Region. Die Fische stecken voller Schwermetalle, werden jedoch von den Flussanwohnern gefischt und verzehrt. Das Fernsehen der Unisinos begleitet uns während der ganzen Fahrt und lässt unsere Blechbläser auf dem Oberdeck "muss i denn" spielen.


Zurück zum Hotel ziehen wir uns schnellstens um und eilen zum Festplatz, um open Air ein Kurzprogramm abzuliefern. Unser Egmont wäre dabei fast einem Schlagzeug-Soundcheck zum Opfer gefallen, der sich dröhnend in unsere Klänge mischt. Barbara zischt zwischen den Zähnen hindurch: "gleich hören wir auf..." Aber dann erlöst uns unsere Leopoldo-Führerin von dem Lärm und wir können noch einen Teil unseres Programms loswerden. Es stellt sich heraus, dass nach uns eine angesagte Popgruppe auftritt, die Rebellion in ihrem Namen führt. Daher das große Polizei- und Militäraufgebot. Wir werden mit Polizeischutz vom Fest geleitet, man will uns loswerden, weil für unsere Sicherheit keiner mehr garantieren kann. Am alten Unigebäude bekommen wir ein Sandwich verabreicht und lassen danach den Abend in größeren Gruppen ausklingen.

Donnerstag, 22. Julho - Heute sind wir beim stellvertretenden Bürgermeister zum Empfang geladen und drängen uns alle 42 in seinem viel zu kleinen Büro. Er stellt sich als ganz nett heraus, unsere Gespräche kommen aber über allgemeine Höflichkeiten kaum hinaus. Es werden Geschenke ausgetauscht, wir überreichen den Brief von Maria Unger an den Staatspräsidenten, der seinen Besuch bei unserem Konzert doch wieder absagen musste, und erfahren zum ersten mal, dass der Name Gütersloh wohl sehr schwer auszusprechen sein muss. Im Laufe der Reise kristallisieren sich zwei offenbar gangbare Varianten heraus: "Gieterloch" und "Guterlusch", aber uns geht's auch nicht anders: Herr Dreier spricht bei einer seiner offiziellen Begrüßungen zu Beginn eines unserer Konzerte von "Sankt Leonardo", eine Version, die sich ganz schnell allgemein durchsetzt... Gütersloh, so erfährt der geneigte Vize-Prefetto - und so werden wir es noch öfter hören - liegt an der Bahnstrecke zwischen Köln und Berlin (Paris-Warschau wäre auch gegangen, es hätte dann aber an deutschen Koordinaten gemangelt) und ist damit in etwa zu lokalisieren...
    Nach einem weiteren Mittagessen bei Dodó, dem Lokal "zum gegrillten Klappfisch", besuchen wir das Einwanderungsmuseum. Ein älterer Herr mit hunsrückischer Abstammung gibt uns einen Einblick in die deutsche Vergangenheit der Region. Wie es aussieht, können die meisten Leute seiner Generation noch ganz gut Deutsch, weil sie es vor dem 2. Weltkrieg in ihren Familien ausschließlich gesprochen haben. Während der Nazizeit war das aber verboten: Wer deutsch sprach, landete u.U. im Gefängnis. So hat sich die Sprache nicht auf die folgenden Generationen vererben können.
    Nachmittags haben wir einen weiteren Auftritt auf dem Fest, der trotz der widrigen Openair-Umstände recht gut gelingt und sehr freundlich aufgenommen wird. Diesmal werden wir auch nicht gestört.
    Abends gehe ich mit Wiebke, Gregor und ein paar anderen in das Konzert der Streicherdozenten des Festival Inverno, das in der alten Aula der Unisinos stattfindet. Fausto Borém, den ich in unserem Hotel beim Frühstück kennen gelernt habe - er ist derjenige, der mich auf die tatsächlich frappierende ähnlichkeit Jochen Dreiers mit Oliver Kahn hinwies - spielt sehr ausdrucksvoll und schön Kontrabass. Ein sehr sympathischer Typ und echter Könner.


Die anderen Spieler des Abends konnte man getrost vergessen. Der Cellist ein Schaumschläger, seine Studenten auch nicht besser als unsere mitgereisten Schüler, die beiden russisch ausgebildeten Geigerinnen enttäuschend blass und ihr Repertoire uninteressant. Unter anderem spielen sie Schnittkes unsägliches Menuett im alten Stil, ein Stück, das in seiner plump anbiedernden Schlichtheit verboten gehört. Hinterher stoßen wir zu den Anderen, die sich derweil auf dem Fest vergnügt haben, und ich lasse mich von Lasse zu einem Überkopf-Flug im "Kamikaze" überreden - echt cool.


Allerdings sind die Fahrgeschäfte hier alle schon ein wenig verbraucht und lediert: Wo Stahl gebrochen ist, wird mit Seilen ausgebessert und der Auto-Scooter fängt gar an zu kokeln, als Kilian damit unterwegs ist - unser Tüv hätte seine helle Freude daran! Gut, dass wir darauf erst im Nachhinein aufmerksam gemacht werden.

Freitag, 23. Julho - Abschied von Sankt Leonardo: Der Tag steht ganz im Zeichen unseres ersten unmittelbaren Zusammentreffens mit brasilianischen Gastfamilien. Bis Mittags sind wir aber noch in SL, wo wir shoppen und noch einmal in unserem "Stammlokal" zu Mittag essen. Die Kids sind wahnsinnig gespannt auf ihre Gasteltern - einige haben richtig Angst davor - und unser Konzert im Theater von Novo Hamburgo, das wegen Zeitknappheit praktisch ohne Probe abgeliefert werden muss, leidet mächtig darunter. Es fällt mir schwer, den Laden zusammenzuhalten und die trockene Akustik lässt uns musikalisch auflaufen. Leute, die sonst bei Proben mit ihrer ganzen Körpersprache zum Ausdruck bringen, dass eigentlich jede Minute zuviel ist, fordern plötzlich mit dem Grundton der Entrüstung, vor dem nächsten Konzert müsse aber dringend mal richtig geprobt werden. So kann's kommen...
    Gregor und ich sind bei Doris und Hélio Feltes (Architektin und Rechtsanwalt) untergebracht. Supernette, sehr lustige Leute, die in verhältnismäßig großem Wohlstand zu leben scheinen. Ihr Haus ist eine verschachtelte Villa in mediterranem Stil, ausgestattet mit allem Comfort inklusive Pool, der auch im Winter offenbar ständig gereinigt wird. Er sieht sehr einladend aus - wenn das Wasser nur nicht so kalt wäre! Unsere Gastgeber sprechen ein wenig Hunsrückisch, Doris noch mehr als Hélio. Zwei ihrer Söhne sind auch Musiker und verdienen ihren Lebensunterhalt in den Bands von Porto Alegre. Unser mit Händen und Füßen geführtes Gespräch am Abend findet vor der Kulisse eines permanent laufenden Fernsehers statt, denn man kann in diesem Teil Brasiliens die Deutsche Welle in allen möglichen Sprachen empfangen, und wir sollen nicht darauf verzichten müssen. Doris hat spät abends noch Pizza gemacht - sehr lecker - wir gießen etwas brasilianischen Sekt darauf, und, als schließlich noch die Pizzastücke das Fliegen lernen - es wird ordentlich gekleckert - ist die Stimmung recht ausgelassen. Gregor und ich haben unseren Spaß, sind aber auch schon reichlich müde. Um zwei Uhr döse ich im Sessel sitzend ein. Das wird als Signal genommen und wir können uns dezent zurückziehen.

Samstag, 24. Julho - Diesen Tag haben wir an sich ganz für Porto Alegre reserviert. Früh morgens schon treffen wir uns am Theater. Vorher zeigt uns Doris aber noch stolz den alten Teil von Novo Hamburgo, wo tatsächlich einige schöne alte Häuser stehen.


Überhaupt ist der Ort im krassen Gegensatz zu São Leopoldo sehr gepflegt und scheint überwiegend von reichen Pendlern der benachbarten Großmetropole bevölkert zu sein. In Novo Hamburgo, so hat es Eike Bach, der Brasilianer, den wir vor einem Jahr schon bei Udo Schreiber kennen gelernt haben und der für uns die zweite Woche in Brasilien organisiert hat, vorgesehen, besichtigen wir zunächst noch eine Oldtimerausstellung. Isettas, DKWs und Käfer, andere VWs und allerlei bunte Amischaukeln gibt es dort zu bewundern, wie man sie allerdings ebensogut auch bei uns zu sehen bekäme.
    In Porto Allegre angekommen gehen wir zuerst durch die große Markthalle und nehmen die vielen unterschiedlichen Gerüche auf, staunen über eine schier unendliche Vielfalt von Früchten, Nüssen, frischen und getrockneten Fischen, Fleisch und Wurst. Käse scheint es nicht im gleichen Maße zu geben. Einige schaffen es noch auf einen indianischen Flohmarkt, während wir anderen uns ein Essen bestellt haben, das etwas zu lange auf sich warten lässt - Pech.


Nachmittags besuchen wir das Stadion von Inter (Internacional de Porto Alegre) und sehen uns das Spiel gegen Juventude RS an, von deren Fans sich nur ein paar ins Stadion getraut haben. Wir decken uns mit roten Mützen ein und schreien mit der Menge. Es stellt sich aber heraus, dass wir auf die falschen Pferde gesetzt haben: Die roten Teufel tun viel zu wenig und verlieren verdient gegen die grüngekleidete Mannschaft aus Caxias. Knapp 20.000 Zuschauer schwanken zwischen frenetischer Anfeuerung und wüster Beschimpfung der eigenen Mannschaft. Mütter von Spielern sind besonders betroffen, wie es scheint: Sie werden in Abwesenheit zur "Puta" erklärt, jedes dritte Wort ist Merda. Also: alles ganz ähnlich wie bei uns, vielleicht einen Tick temperamentvoller ausgelebt...


Anschließend flanieren wir durch ein großes Shopping-Center, lassen uns aber von den insgesamt recht saftigen Preisen von größeren Einkäufen abschrecken. Nach den eher schäbigen aber ziemlich günstigen Einkaufsmöglichkeiten, die wir in São Leopoldo in direkter Umgebung unseres Hotels hatten, wird mir die Diskrepanz zwischen Arm und Reich in Brasilien und ihre Auswirkung auf Handelspreise überdeutlich: Lebensmittel, frisches Obst, einfache Klamotten, Schuhe, das Essengehen im einfachen Lokal an der Straße - das kann nicht anders als für unsere Verhältnisse sehr billig sein, wenn man bedenkt, dass ein gutes Monatseinkommen bei 600 Reais (weniger als 180 Euro) liegt. Gehobene Konsumgüter wie Digitalkameras, Tonträger und Telekommunikationsmittel dagegen sind erstaunlich teuer - wer kann sich das wohl leisten, frage ich mich. Aber: die Mall ist knallevoll.
    Zu Abend essen wir in einer der größten brasilianischen Churraskarien. Die Form der rituellen Röstfleischverteilung, wie sie hier zelebriert wird, gefällt glaube ich allen sehr. Das Fleisch ist saftig, es gibt von allem etwas bis zum Abwinken, und dazu wird uns noch eine formidable Gaucho-Show mit allem drum und dran geboten. Das einzige Problem, das ich hier wie an anderen Rodizio-Stationen (Prinzip: Essen bis nichts mehr geht...) habe, ist, dass ich vor lauter Neugier auf all die neuen Gaumeneindrücke kaum mit dem Spachteln aufhören kann. Vielleicht noch ein Rippchen gefällig, etwas Lamm, ein Stück herzhafte Rauchwurst, oder, wie wär's mal mit Coração, zartesten Hühnerherzchen vom Grill? Oh Mann, ich werde eine Entziehungskur machen müssen, sollte ich je lebend wieder nach hause kommen...
    Danach, es ist schon weit nach 23.00 Uhr, landen wir im Hotel Novo Hamburgo. Die Nacht ist kurz: Um 9.30 Uhr soll es am nächsten Morgen in Richtung Berge weitergehen.

4. Die Reise zu den Iguacu-Fällen - Andante grazioso

Sonntag, 25. Julho
- 1. Station ist Nova Petropolis, ein nettes Städtchen, fest in deutscher Hand, in dem uns wieder Privatquartiere zugewiesen werden. Ich habe erneut Glück und komme zu Vera und Ricardo, die einwandfrei Hunsrickisch schwätze, übrigens aach unnereinander. Sie betreiben eine Art Catering-Service und bewohnen ein richtig geschmackvoll ausgestattetes Einfamilienhaus.


Mit mir sind Franziska und Meriem untergebracht, die sich als absolut verträglich herausstellen. Meriem dreht allerdings kurz durch, als die Kakerlake aus Franzis Koffer hervorkommt, die diese von ihrem letzten Quartier mitgebracht hatte. Sie stößt einen ziemlich hochfrequenten Schrei aus, der mich um ihr Leben fürchten lässt.
    Vor dem Konzert können wir zwei Stunden proben und daher gelingen am Abend unsere Tutti-Stücke ziemlich gut - es fäng an, mir Spaß zu machen! Anschließend gibt es ein gemeinsames Essen mit den Gastfamilien, das Ricardo und Vera gekocht haben. Wir treffen dabei viel gutgelauntes, deutsch sprechendes Volk, Leute, die sich freuen, mit uns schwätzen zu können und dies auch ausgiebig tun. Später am Abend zeigt Ricardo mir noch stapelweise Fotoalben mit deutschen und Gaucho-Trachten, wie er sie in seinem Trachtenverein trägt, und von den Kommunionen seiner beiden Kinder - na ja, interessanter ist es da schon, das Südamerikacup-Finale zuende zu gucken, das offenbar die ganze Nacht durch immer wieder komplett wiederholt wird, und das Brasilien gegen Argentinien nach Elfmeter-Schießen gewonnen hat, genau in dem Moment, als unser Konzert gerade begann. So erklärt sich wohl auch, dass die Zuhörer erst etwas verspätet den Saal des Kulturzentrums füllten, auf dessen kleingeratener Bühne wir gerade soeben Platz hatten.
    Vor unserer Abfahrt vom Hotel am Morgen konnte ich eine kurze Mail an die Gütersloher "Mailgroup" schicken:

Moin moin liebe Daheimgebliebene, es gibt uns noch alle! Wir haben eine ereignisreiche Woche hinter uns, mit Besichtigungen, Konzerten, Empfaengen, Kirmesbesuch, Fussballspiel und und und...
Das alles bei absolutem Bilderbuchwetter wie es im deutschen Sommer auch nicht besser sein koennte. Auch die erste Unterbringung in Familien, vor der sich manche doch ein wenig gefuerchtet haben, war prima. Gestern abend gab es Churrasko und Folklore und heute geht es weiter nach Novo Petropolis.
Bis auf einige kleinere Durchfall- und Uebelkeitsanfaelle, mit denen man wohl rechnen musste und die nur etwa einen Tag anhalten, sind alle wohlauf und guter Dinge. (...)


Montag, 26. Juho - Früh an diesem Morgen werden wir an zentraler Stelle abgeliefert und haben Zeit, noch ein paar Schritte durch den Ort zu machen, der aus schmucken Häusern besteht und einen unaufdringlichen touristischen Anstrich hat.


Mittags erreichen wir Gramado, das sich - im Gegensatz dazu - gnadenlos auf den Touristenfang ausgerichtet hat - was hieran schön und/oder erholsam sein soll, erschließt sich mir nicht. Unsere Unterkunft die Casa da Juventude entpuppt sich allerdings als sehr idyllisch an einem kleinen See gelegene Jugendherberge alten Stils.


"Tante" Jutta aus Nova Petropolis, die mir nach unserem Auftritt in fließendem Deutsch mitgeteilt hatte, dieser sei "etwa oberaffengeil" gewesen, telefoniert hinter uns her und erwischt mich dann beim Mittagessen in der Casa. Ihre wichtige Botschaft: Schlingensief in Bayreuth sei der Deutschen Welle zufolge am gleichen Abend ein voller Erfolg also ebenfalls "etwa affengeil" gewesen und sie habe sich gedacht, das müsste mich doch interessieren! (Ich hatte in meiner Anmoderation der Meistersinger-Ouvertüre auf die sinnige Koinzidenz zwischen der Eröffnung der Festspiele und dem Tag der Imigração alemão (25.07.) angespielt...)
Nach dem Essen fahren wir mit dem Bus die paar Kilometer zum Cascado do Caracol und werfen unterwegs einen Blick auf die Cañons, die wir wohl schon vom Flieger aus gesehen haben. Mit einem Sessellift geht es an der dem Wasserfall gegenüber liegenden Cañonwand herunter: So wird uns doppeltes Vergnügen breitet.


Auf dem Weg zurück kommen wir an einer Schokoladenfabrik vorbei, wo sich die Kids reichlich mit dem klebrigen Zeug eindecken. Einige haben sich dort mit Chili gewürzte Schokolade andrehen lassen und kehren fluchend und stöhnend in den Bus zurück.
Das Lokal, wie Eike Bach, unser brasilianischer Reiseleiter immer sagt, in dem wir abends auftreten, sieht aus wie ein Kinosaal und ist rekordverdächtig kalt. Entsprechend läuft das Konzert so lala.

Dienstag, 27. Julho - machen wir unsere erste etwas längere Tour, es geht nach Santa Cruz do Sul. Nach der allgemeinen Quartiereinteilung werden Herr Dreier und ich im Hotel abgeliefert. Zur Probe erscheinen die Kids mit überwiegend zufriedenen Gesichtern, alle sind anscheinend gut untergebracht und die gute Stimmung überträgt sich auch auf unser Konzert. Egmont wird diesmal richtig gut, und ich habe meine Freude daran. Das Publikum offenbar auch, es erzwingt sogar eine zweite Zugabe - ungewöhnlich für hiesige Gepflogenheiten. Der Saal ist ein zu einer Schule gehörendes Theater/Kulturzentrum (Colegio Mauá), in dem sich der Reichtum dieser Stadt (hier gibt es die größten Zigarettenfabriken Brasiliens und eine Universität - ca. 120.000 Einwohner) wiederspiegelt.
    Caretero - Reis mit Gulasch würde man bei uns vielleicht sagen - gibt es hinterher in der deutschen Festhalle. Das Fleisch dafür sei früher unterm Sattel zugeritten worden, so wird uns berichtet. Einer der Deutschen von Santa Cruz bringt uns mit seinem dicken Mercedes ins Hotel zurück. Er ist Fachanwalt für Steuerfragen und - wie sich herausstellt besitzt er nebenbei auch das Hotel.

Mittwoch, 28. Julho - Bevor es weitergeht, setze ich schnell noch eine kurze Mail ab:

Moin moin Allerseits, hier melde ich mich mal wieder kurz, diesmal aus Stanta Cruz do Sul, wo wie gestern abend unser bisher bestes Konzert gegeben haben. Alle sind wohlauf und - so scheint mir jedenfalls - sehr zufrieden mit dem bisherigen Verlauf unseres Brasilienabenteuers. Auch die anfaengliche Angst vor den fremden Gastfamilien hat sich in freudige Erwartung gewandelt, denn wir werden hier ueberall sehr gastfreundlich empfangen.
Gleich geht es weiter nach Ijui, das wird eine etwas laengere Fahrt. Uebermorgen geben wir schon unser letztes Konzert in Sta. Rosa. Dann werde ich mich vermutlich aus Iguacu noch einmal melden. (...)


Der Mittwoch bringt uns eine 6stündige Reise durch wechselnde Landschaften zurück ins Mittelgebirge und später durch grüne Hügel - "Bergisches Land mit Palmen", wie Bettina es treffend charakterisiert - nach Ijui.


Hier sind wir im Hotel Vera Cruz untergebracht, das einen etwas abgestandenen Charme verbreitet, sich schließlich aber doch als recht komfortabel erweist jedenfalls in punkto warme Dusche, Fahrstuhl und Frühstücksqualität. Nach einem kleinen Imbiss im deutschen Kulturzentrum - wieder einer Art steinernem Zelt wie wir es auch in Nova Petropolis und Santa Cruz do Sul gesehen haben, geht es zum Konzert im Audimax der hiesigen Universität, einem riesigen Saal mit über 700 Plätzen.
    Zunächst machen wir uns keine Hoffnungen, diese gefüllt zu finden. Zu unserer großen Überraschung wird es aber doch voll. Der Beginn des Konzertes verzögert sich allerdings, weil einer der angekündigten Redner draußen vor der Tür mit seinem Handy noch dringende Geschäfte abwickeln muss. Erst, als ich unverhohlen damit drohe, einfach anzufangen, bequemt er sich auf die Bühne. Nun beginnt ein 20minütiges Rederitual: Da das Konzert zu unserer Überraschung vom regionalen Radiosender life übertragen und vom Fernsehen aufgezeichnet wird, kommen neben der Präsidentin der Universität, dem Vorsitzenden des deutschen Kulturvereins, Herrn Dreier und dem dolmetschenden Eike Bach auch noch zwei Moderatorinnen zu Wort, bevor wir loslegen können. Ich werde als Maestro Gorben angekündigt und die verschiedenen Gieterlusch-Varianten werden wieder einmal durchgespielt. Das Konzert wird nachhaltig beeinträchtigt durch die Radioleute. Ein Reporter sitzt in der ersten Reihe und kommentiert wie bei einer Sportübertragung, unterbrochen nur, als sein Handy klingelt. Seelenruhig klärt er seine privaten Dinge, bevor er sich wieder ganz der Konzertübertragung widmen kann. Bis auf kleine Schlafmützigkeiten, die wohl dem ungünstig geplanten vorherigen Abendessen und den genannten Sörungen geschuldet sind, gelingt uns das Programm ziemlich ordentlich.
    Hinterher erzählt mir der Bürgermeister, dass zuletzt vor drei Jahren hier ein Sinfonieorchester aufgetreten sei, was er sehr bedauere, genau wie die Rektorin der Uni, mit der ich auch noch kurz spreche. Sie überreicht mir stolz eine CD des Uni-Chores. Die örtliche "Banda", deren Regente auch erschienen ist und der uns ein von ihm arrangiertes Stück in Kopie übereichen lässt, ist offenbar ein Blasorchester auf das die ganze Region stolz ist.
    Das Konzert diente interessanterweise der Speisung Bedürftiger: 1 Kilo haltbare Lebensmittel ist als Eintritt am Eingang abzuliefern, am Ende werden sich wohl 700 Kilo angesammelt haben, eine erstaunlich Erfahrung.

Donnerstag, 29. Julho - Das letzte Konzert findet in Santa Rosa statt, wo Donna Barbaras Stiefmutter zuhause ist. Auf der Reise dahin machen wir einen Abstecher zu den Ruinen von San Miguel, einem Jesuitenkloster, das die Portugiesen abgebrannt haben, weil ihnen der allzu liberale Umgang der dort mit den Indios gepflegt wurde, nicht passte.


Die Ruinen sind aus rotem Backstein und machen großen Eindruck auf mich. Lasse dagegen findet mehr Gefallen an den handgeschnitzten Waffen und Tierfigurinen, die hier von Indios feilgehalten werden. Er kauft sich ein Holzmesser und ist zufrieden. Ich erstehe ein paar Tiere als Mitbringsel für zuhause. Hier sehen wir zum ersten mal Papageienvögel, relativ klein, grünlich und laut. Es ist ein kleiner Schwarm, der uns leider nicht näher kommen lässt.


In Santa Rosa steht bei unserer Ankunft vor dem Kulturzentrum, eher einem großen Kino, schon die Schar unserer Gastgeber mit Fähnchen, auf die sie unsere Namen gemalt haben. Dreimal fährt der Busfahrer um das Careé bis wir genug Platz haben zum Ausladen. Ich bin diesmal gemeinsam mit Wiebke und Lasse untergebracht, bei sehr netten Leuten, die "mit Schreibnamen" - wie man hier sagt - Fritzen heißen. Am Kulturzentrum treffen wir auch einen alten Gütersloher: Bernd Tuxhorn, Jochen Dreiers ehmaliger Lateinschüler begrüßt uns und nimmt diesen gleich in Beschlag. Er demonstriert die offenbar bereits vollzogene Assimilation mit seiner neuen Brasilianischen Heimat, indem er sich als Gaucho mit Lederhut, Stiefeln und Bombacha (Pluderhose) ausstaffiert zeigt.
    Unsere Gastgeber sind sehr wissbegierig und fragen mich in ihrem hunsrückisch eingefärbten, sehr flüssig funktionierendem Deutsch über unsere Lebensumstände in Deutschland aus, nach dem Motto "wenn mer scho mal Deutschländer da habbe". Wir erfahren im Gegenzug eine Menge über das Leben hier, und ich bin doch froh, dass ich immerhin in drei Familien zu Gast war, die zwar vermutlich überhaupt nicht repräsentativ für die brasilianische Bevölkerung insgesamt waren, wohl aber für den eher gutsituierten Teil der Population deutscher Herkunft. Unser Konzert gelingt sehr gut, der Wagner war nie besser. Wieder gab es mehrere Vorreden - Barbaras Stiefmutter, die hier vor Ort alles organisiert hat, kam auch zu Wort. Unsere Gastgeber fanden das Konzert "määächtich scheen", wie sie nicht müde werden zu betonen.
    Überhaupt kommen unsere Konzerte gut an, besser als erwartet. Jedenfalls äußern sich nach allen Auftritten in einzelnen Gesprächen die Leute entsprechend, auch wenn vorher der Applaus immer - für unsere Verhältnisse - recht kurz ausgefallen ist. Es stellt sich heraus, dass sinfonische Musik außerhalb der großen Städte kaum jemals live gespielt wird.
    Nach dem letzten Konzert gibt es nochmals ein Churrasko im noch nicht ganz fertigen Deutschen Kulturzentrum. Der Vorsitzende des deutschen Kulturvereins führt mich in die Küche und zeigt mir wie die beliebte brasilianische Grillmethode funktioniert. Das Fleisch wird - nur mit grobem Salz eingerieben - über Holzkohle gegrillt und hat dadurch nur den eigenen Geschmack. Sehr lecker, bloß isst man immer zu viel davon, s.o. Die örtliche Musikschule (sie hat 150 Schüler/innen) spielt uns bevor das Essen fertig ist mit zwei Geigen, Gitarre, E-Bass und Akkordeon ein brasilianisches Ständchen, und ein Gauchotanz wird geboten.

Freitag, 30. Julho - Bei der großen Verabschiedung am nächsten Morgen erhält jeder Erwachsene noch ein Fläschchen Cachaça, den Barbaras Stiefmutter selbst gebrannt hat, dann begeben wir uns auf die lange Busfahrt zu den Iguaçu-Fällen. Die Abkürzung über Argentinien, die uns wohl ein paar Stunden hätte ersparen können, wollen unsere Busfahrer nicht riskieren, denn sie wurden dort verschiedentlich schon sehr aufgehalten und mit fadenscheinigen Begründungen schikaniert, weil ein drittes Warndreieck, irgendwelche Versicherungsunterlagen oder sonst etwas fehlte. Hin und wieder bekommt man schon den Eindruck, dass zwischen den beiden Ländern nicht gerade pure Freundschaft herrscht...


Fast 12 Stunden sind wir schließlich mit dem Bus unterwegs. Beate nutzt die Busfahrt (und das Mikrofon), um am Ende des "offiziellen" Teils der Reise den Organisatoren, insbesondere Donna Barbara, die die treibende Kraft der ganzen Sache war, und Eike Bach - für den brasilianischen Part - im Namen aller zu danken. Erst im Dämmerlicht kommen wir an, treffen es mit dem Hotel Muffato aber fantastisch, echt luxuriös, bekommen sogar noch sehr spät etwas zu essen.


Die Kids können sich nicht zurückhalten, sie müssen in den eiskalten Pool steigen - auch Lasse, der natürlich sauer ist, dass ich ihn nach zwei Zügen wieder zurückpfeife - er hat gleich wieder blaue Lippen. Bis nachts um zwei sitzen wir noch beim Bier zusammen - einige haben sich noch auf Lasses Vorschlag hin zu einer Chimarrão-Runde zusammengefunden - und klönen.

Samstag, 31. Julho - Der letzte Tag in Brasilien ist dann noch einmal gestopft voll mit Besichtigungs-Programm: Wir fahren erst zum Nationalpark Iguaçu und sehen uns dort die exotischen Vögel an. Papageien, Kolibris, Flamingos, aber auch Riesenschmetterlinge, Echsen und Schlangen sind dort zu sehen und werden ausgiebig fotografiert. Der Andenkenladen beim Vogelpark bekommt etliches von unseren letzten Brasilianischen Kröten. Wir beginnen nach Geldquellen zu forschen.


Zum Glück kann man an den Wasserfällen den Eintritt mit Plastikgeld bezahlen... Einige entschließen sich, die Fälle mit einem Hubschrauber zu besichtigen, was für die anderen gut eine Stunde Warten bedeutet, dann gehen wir in den Iguaçu-Park, dessen Bewirtschaftung offenbar von Amerikanern sehr straff organisiert ist. Man wird durch das weitläufige Gelände mit Bussen transportiert, wir steigen an der ersten Station aus und lassen uns in offenen Wagen durch einen Wald mit exotischen Pflanzen und einer ebensolchen Tierwelt (von der wir allerdings nichts zu sehen bekommen) zum Bootssteg kutschieren. Der Reiseführer weist auf die Möglichkeit hin, hier Schlangen und Taranteln zu begegnen und fragt uns, ob wir zu Fuß weitergehen möchten. Keine Freiwilligen. Er kündigt des weiteren an, dass wir nach der Bootsfahrt "nass aber froh" sein werden.
    Die Boote, mit denen wir dann an die Fälle herangefahren werden, sind große, stark übermotorisierte Schlauchboote. Es macht unserem Bootsführer offenbar tierischen Spaß, durch die Stromschnellen zu manövrieren und ihm gefällt es auch, uns mit seinen Aktionen dicht an den Fällen bis auf die Knochen nass zu bekommen. Auch diejenigen, die sich eine Plastikregenhaut besorgt haben, bekommen einiges ab... Das Ganze ist eine Mordsgaudi und die Perspektive auf diese gigantischen Wasserfälle ist unbezahlbar - direkter kann man diese ungeheuren Wassermassen wohl nicht erleben. Zurück am Anleger gilt es erst einmal, die nassen Sachen auf der Uferböschung zum Trocknen auszubreiten - unsere Ersatzklamotten haben wir weiter oben an der Kasse deponiert. Umziehen können wir uns also erst später, und da nicht alle Ersatz dabei haben, wird kräftig getauscht und ausgeholfen. Die superschlanke Tina sieht in meinem ausgebeulten grauen Pullover mit Lasses Werder-Tshirt darunter extracool aus!






Mit dem Touribus geht es noch weiter zu zwei anderen Aussichtspunkten, zwei weiteren Gelegenheiten, ordentlich nass zu werden und die Fälle jeweils aus einer anderen Perspektive zu betrachten und zu fotografieren.


Als es dunkel wird, bekommen wir noch eine weitere große Attraktion geboten: Das größte Wasserkraftwerk der Welt, Itaipu, das ganz in der Nähe liegt, wird um 21.30 Uhr illuminiert. In einer kleinen Lightshow mit sehr lauter Filmmusik untermalt wird eine Sektion nach der anderen langsam erhellt, und als der gesamte Komplex vor uns erleuchtet daliegt, sind wir von der eigenwilligen Ästhetik des Anblicks ziemlich beeindruckt.



5. Die Rückreise - Finale presto

Sonntag, 1. Agosto
- Tag unserer Rückfahrt. Gregor und ich wollen unbedingt noch einmal mit dem Hubschrauber über die Fälle fliegen. Da ein paar andere noch ihre restlichen Gelder loswerden wollen, chartern wir unseren Bus zu einer morgendlichen Spritztour. Auch aus der Vogelperspektive beeindrucken mich die Iguaçu-Fälle noch einmal mächtig, und ich verknipse die letzten Aufnahmen meiner Speicherkarte.


Allerletzte Station ist das Dreiländereck zwischen Argentinien, Brasilien und Paraguay. Hier kaufen wir noch ein paar Andenken und nutzen die Gelegenheit, Postkarten zu verschicken, um sie nicht selbst zuhause abliefern zu müssen. Dann geht es leider endgültig wieder zurück in Richtung Heimat: 14.30 Uhr ist das Einchecken auf dem Flughafen von Foz do Iguaçu vorgesehen. Lasse kauft sich schnell noch eine richtig protzig wirkende, wahrscheinlich in China gefälschte Markenuhr bei einem fliegenden Händler, dann verabschieden wir uns vom Hotel Muffat, von Eike Bach, der den zweiten Teil der Reise so erfolgreich organisiert, uns überall hingeführt hat, und von den netten Busfahrern und schon stehen wir wieder vor einem Schalter der Varig. Und siehe da, diesmal gibt es ein Gruppen-Check-in! An der Ausreisekontrolle müssen wir mit ansehen, wie alle durch die Schranke gewunken werden ohne dass man unsere kostbaren notariellen Einverständniserklärungen auch nur eines Blickes würdigt, ganz schön bitter das: Wenn man bedenkt, mit welchem Aufwand wir die zusammengestellt haben, könnte man sich die Haare raufen - na ja, was soll's...
    Der Inlandsflug nach São Paulo mit Zwischenlandung in Curritba verläuft ereignislos, eineinhalb Stunden, die tatsächlich wie im Flug vergehen, da ich mich angeregt mit meiner Sitznachbarin Hanna unterhalten kann. Lasse hat nämlich eine große Platztauschaktion geplant und durchgeführt, wer will schließlich schon neben seinem Alten sitzen, am letzten Tag des großen Abenteuers? In São Paulo gelandet erfahren wir, dass sich unser Weiterflug etwas verzögern wird. Die Maschine, mit der wir fliegen sollen, kommt aus Argentinien und konnte wegen Nebels dort nicht starten. Aus zunächst angesagten 90 Minuten werden satte drei Stunden Wartezeit. Als klar ist, dass wir unsere Zugverbindungen in Deutschland wohl nicht werden einhalten können, gebe ich diese Nachricht als letzten Brasilienbericht per Mail an die Gütersloher durch, in der Hoffnung, dass diese noch rechtzeitig empfangen wird. Donna Barbara schickt ein Telex an die Varig in Frankfurt, man möge sich doch bitte um unser Weiterkommen kümmern.

Hallo Allerseits, ich melde mich noch einmal aus Brasilien, wo wir eigentlich schon gar nicht mehr sein sollten: Unser Flugzeug von Sao Paulo verspaetet sich naemlich um ca. 3 Stunden. Natuerlich koennen wir damit auch unsere Verbindung von Frankfurt nach Hause nicht einhalten. Wir bemuehen uns zur Zeit um einen Bus oder eine andere Zugverbindung, 19.15 ab Frankfurt wuerden wir vielleicht schaffen, wir wollen aber nicht im Stehen fahren. Kann also sein, dass uns die Varig in FFM eine Uebernachtung spendieren muss, wenn alle Stricke reissen.
Bis hier sind wir jedenfalls heil gekommen, alle sind guter Dinge, nur etwas muede (ok, die letzten Naechte waren etwas laenger...).
Bis Morgen, wir melden uns bei der Telefonkette, wenn wir in FFM gelandet sind, und wissen, was die Varig sich hat einfallen lassen (...)


Der Atlantikflug bedeutet diesmal für uns eine Nacht lang stillsitzen um dann in Frankfurt angekommen den Tag schon vertrödelt zu haben. Mal sehen, wie wir das verarbeiten werden, was man neudeutsch Jetlag nennt.

Montag, 2. August - Wir landen mit gut drei Stunden Verspätung in Frankfurt und müssen erst einmal abwarten, wie es weitergehen soll. Ein letzter Zählappell ergibt, dass tatsächlich alle, die mit uns nach Brasilien gefahren sind, jetzt wieder deutschen Boden unter den Füßen haben. Irgendwie fällt mir ein Stein vom Herzen...


Jetzt verlassen uns alle, die nicht weiter nach Gütersloh fahren und uns andere bringt ein von der Varig spontan organisierter Bus prompt dahin zurück. Ehe wir uns versehen, ist das große Abenteuer zuende, von dem wir unseren Angehörigen in den nächsten Tagen stundenlang begeistert Bericht erstatten werden - denn soviel ist glaube ich für alle klar: Diese Konzertreise wird keiner von uns so schnell vergessen!